Vortrag Kunstakademie Nürnberg am 19. Januar 2023

Jeden Tag komme ich wieder an dieselbe Stelle:
Da ist mein Arbeitstisch, darauf das Holzgestell als Zeichenpult.
Eine Lampe ist auf die Zeichenfläche gerichtet.
Gerade habe ich ein weißes Blatt Papier aufs A4 Format zurechtgeschnitten.
Und mit dem Falzbein die Schnittkanten entgratet.
Die Bleistiftmine ist mit einer Klinge bereits angespitzt.
Ich nehme vor dem Pult einen festen Stand ein.
Aus der freien Hand möchte ich gerade Linien ziehen.
Wie schon seit mehr als zwanzig Jahren.
Die erste Linie wird mittig von Blattrand zu Blattrand laufen.
Ich atme ein, ich atme aus.
Setze den Stift am oberen Blattrand an.
Keine Spur bis jetzt.
Halt.
Diese Stelle ist es.
Hier möchte ich einmal versuchen, die Position zu halten.
Sonst ist es nur ein kurzer Moment:
Gerade, bevor sich Zeicheninstrument und Zeichenfläche treffen.
Das Zeicheninstrument, der Bleistift, mündet in eine steil zulaufend geformte Spitze.
Das Papier: Fläche, weiß und unbesetzt.

Der Stift und wie er geführt wird weist auf Aktion hin.
Das Papier liegt auf dem Tisch – es nimmt auf.
Anhalten, in diesem Moment, heißt:
Den Akt hinauszögern.
Noch nicht in die Ausführung gehen.
In der Möglichkeit bleiben.
In der Potenz.
Die Potenz:
So bezeichne ich hier den Abstand, den die Bleistiftspitze gerade eben noch zum Papier hält.
Es gibt eine Potenz im Weiß des Papiers.
Und es gibt eine Potenz in der Spitze der Bleistiftmine.
Hier meine ich die Potenz des Abstands zwischen Papier und Bleistiftspitze.
Der Raum, verdichtet auf diesen Abstand.
Die Zeit, verdichtet auf diesen Moment.
Bevor die ersten Graphitpartikel aufs Papier treffen.
Dieses fast Nichts an Zeit und Raum
– diesen Schwebezustand –
will ich zum Herz meiner Arbeit erklären.

Und will hier einigen Bahnen folgen, die darin einmünden und daraus hervorgehen.


Ich fange bei den Vorstufen an:
Es geht erst einmal darum, einen Bleistift anzuspitzen für möglichst feine Linien.
Dabei greife ich nicht zu einem gewöhnlichem Spitzer.
Eine scharfe Klinge ist geeigneter.
Die scharfe Klinge ist gewißermaßen Bedingung der Spitze.
Die Spitze ist wiederum Bedingung der feinen Linie.
Beim Ziehen einer Linie trägt sich Graphit auf dem Papier ab.
Ich muß die Mine nach jeder gezogenen Linie erneut anspitzen.
Auch Klingen nutzen sich ab, werden mit der Zeit stumpf.
Ich schärfe sie nach.
Auf verschiedenen Schleifsteinen.
Das erfordert bestimmte Fertigkeiten.
Um diese Fertigkeiten zu erlernen habe ich mehrere Jahre lang Unterricht genommen.
Bei einem japanischen Messerschärfer.

Es gibt Bleistifte, mit denen ich Linien ziehe.
Es gibt andere Bleistifte, die ich einfach immer weiter zuspitze:
Bis zum Bleistiftende.
Bis vom Bleistift nur noch ein Bleistiftstummel übrig bleibt.

Es gibt Klingen, die ich zum Einsatz bringe.
Mit denen ich schneide.
Und es gibt Klingen, die ich allein im Schärfvorgang halte:
Wenn die höchste Schärfe erzielt ist,
führe ich die Klingen ein paarmal über den gröbsten Schleifstein
und beginne mit dem Schärfen von vorn.
Von diesen Klingen bleibt
(oft nach Monaten oder Jahren unermüdlicher Arbeit)
nur noch ein Klingenstummel.
Und ein abgegriffener, schmutziger Holzgriff.

In meiner Arbeit gibt es so gut wie keinen Abfall.
Reste werden weiterverwendet.
Wenn Klingen über Schleifsteine geführt werden,
geht Material verloren.
Auch die Schleifsteine nutzen sich dabei ab.
Die groben Steine schneller.
Die feinen, härteren, langsamer.
Ich sammle den Schleifschlamm
(Abrieb von Schleifstein und Klingenstahl),
trockne ihn und zermahle ihn im Mörser zu Pulver.
Aus diesem Pulver
lasse ich im Keramikofen neue Schleifsteine brennen.
Der Graphittiegel
(also die Gußform für die neuen Steine)
besteht aus einem Gemisch aus Graphit und Ton.
Den Graphitstaub dafür habe ich beim Anspitzen der Bleistifte gesammelt.
Aus hunderten von Restklingen
(die im Gebrauch standen und immer wieder nachgeschärft wurden, bis sie zu klein waren)
habe ich einen Klingenrohling schmieden lassen.
Potential eines neuen Messers.
Und klein gerissene Papierfetzen
(aus Papierzuschnitten und Aufzeichnungen, die die Arbeiten begleiten)
lasse ich zu großen neuen Papieren schöpfen.
Sie sind fast weiß, mit kleinen Einsprengseln.
Ich nutze sie nicht weiter.
Lege sie ab im Zeichenschrank:
Gestapelte Potentiale.

Zurück zur Ausgangsposition.
Noch immer halte ich den winzigen Abstand vom Stift zum Papier.
Habe die Zeit schon etwas gedehnt.
Auch der Raum ist jetzt deutlich weiter geworden.
Was leer schien, hat jetzt an Fülle, an Substanz gewonnen.
Noch ist keine Linie gezogen.
Ich atme wieder tief aus.
Und lasse endlich den Stift vom oberen Blattrand zum unteren laufen.
Eine erste mittig gesetzte Linie, die das Blatt teilt.
Ich drehe das Blatt vom Hochformat zum Querformat.
Ziehe die nächste Linie und weitere.
Der Abstand der Linien orientiert sich am gewöhnlichen Karopapier.
Mit den letzten Linien
(jenen an den Rändern)
ist das unbesetzte Weiß der Papierfläche
einem Karopapier ähnlich geworden.
Und wirkt damit wieder wie leer,
als wäre es erst noch zu besetzen.
„Wirkt wie leer“.

Ich bilde mich seit gut zwanzig Jahren darin aus, freihand diese geraden Linien zu ziehen.
Das bedeutet auch:
Immer tiefer in die Vorstufen hineingehen.
Alles aufeinander abstimmen:
Kopf und Hand.
Atmung und Geisteshaltung.
Stift und Papier.
Und das ganze Material, mit dem ich umgehe.

„Wozu“?
Diese Frage begegnet mir häufig.
Zuletzt stellte sie mir der Redakteur der Nürnberger Nachrichten.
Während eines Rundgangs durch die Ausstellung in der Städischen Galerie in Fürth.
Nicht nur einmal fragte er:
„Wozu das alles?“

Ich möchte zurück fragen:
Sehen Sie nicht den Wert des Nutzlosen?
Der Strom der Bedingtheiten will einen immerfort mitreißen.
Um-zu, Um-zu,…
Eins wird fürs nächste bereitgestellt.
Eine Kette von Bedingtheiten.
Was aber ist das Unbedingte?
Auf das keine weiteren Anwendungen folgen müssen.
Das Ding und Unbedingtes.
Das Werkzeug ein Ding:
Ein Ding, mit dessen Hilfe man etwas Bestimmtes schafft.
Ein Ding stelle ich mir vor, mit dem man nicht oder anders schafft.
Nenne es behelfsmäßig: ein „Nichtwerkzeug“.
Da bildet die Vorstellung aber keinen Raum aus.
Ich versuche es mit „Wirkzeug“:
Wirkzeug als jenes Werkzeug, das nicht mehr auf einen einzigen klaren Zweck zielt.
Das Messer, das präzise über den Stein geführt und geschärft wird.
Nicht mehr fürs Schneiden.
Aber auch nicht für nichts.
Für die Schärfe selbst.
Ihre Potenz, ihre Wirksamkeit.
Schärfe, die unablässig neu erzeugt wird:
Grobschliff, Feinschliff, Politur.
Danach ein paar Züge über den gröbsten Stein.
Und wieder von vorn:
Grobschliff, Feinschliff, Politur.
Kein „Um-zu“.
Ein „Für-sich“.
Oder:
„Für die Schärfe selbst“.
Und für den Raum um diese Schärfe.

Im Wirkzeug kann Raum aufgehen.


Wirken:
Das ist groß und unbestimmt.
Durchwirken:
Das geht ins Stoffliche und Kleine hinein.

Kunst ist Wirken.
Zeigen, wie das Unnütze wirkt.
Wie der Abstand
von Stift und Papier
unfaßbar klein ist
und dabei
unfaßbar weit wirkt.